Der Bezirk/Stadtteil in dem ich wohne, hat seinen schlechten Ruf ja schon lange weg. Die ganz uninformierten vermuten hier eine üble Nazi-Brutstätte, andere wiederum ein böses Ausländer-Ghetto. An beidem ist bedingt etwas dran. Natürlich gibt es sowohl Nazis als auch Ausländer in Marzahn. Aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Nazis meist dumme Mitläufer sind, deren Hauptlebenszweck es ist, billige Propaganda-Shirts zu tragen, tue ich mich schwer, das ernst zu nehmen.
Die hier ansässigen Russen, Vietnamesen und sonstige Nicht-Deutsche leben hier wie jeder andere auch ganz gemütlich vor sich hin. Im schlimmsten Fall versorgen sie die Bevölkerung mit illegalen Kippen. Im Übrigen auch die Nazis…
Na gut, bisweilen wirken die russischen Prolls ein wenig gefährlich, dachte ich.
Die Vermutung kann ich jetzt endgültig über den Haufen werfen!
Einer der zweifellos anstrengendsten Typen hier in der Umgebung ist ein Russe um die 30, der ständig besoffen ist und hier und da mal Leute anlabert. Dass er dabei in mir seinen Meister gefunden hat, überrascht lediglich die anderen, mich nicht. Ich kann im Allgemeinen nicht allzu schlecht mit Menschen umgehen, zudem bin ich sehr geduldig. Das treibt allerdings manchmal auch seltsame Blüten.
Unsere „Bekanntschaft“ fing damit an, dass ich ihm irgendwann mal auf Nachfrage hin eine Zigarette gegeben habe. Entweder weil er es immer so macht – oder weil ich als einziger nicht weggelaufen bin – hat er mich deswegen zum Freund auf Lebenszeit ernannt. Er hat mir also ein paar Mal ein paar vermutlich nette Worte zugegröhlt, so genau weiss ich es nicht, sein Deutsch wird locker von der durchschnittlichen Sprachkompetenz einer Kartoffel übertroffen. So wie es bei mir ja auch mit Russisch ist 🙂
Im letzten Jahr hab ich ihn so gut wie gar nicht gesehen, aber das kann daran liegen, dass ich zu anderen Zeiten einkaufen gehe, oder er sich jetzt sein Bier in anderen Läden holt. Wer weiss das schon?
Aber neulich habe ich ihn wieder mal getroffen. Ich bin zu meinem Stammdöner gewatschelt, um mich vor dem Zurückziehen ins Bett noch etwas zu stärken. Dort saß mein russischer Freund deprimiert an einem Tisch im Außenbereich und winkte mich heran. Er drückte mir ein Sternburg in die Hand und machte einen großen Aufstand, weil wir uns so ewig nicht gesehen haben. Er erzählte – soweit ich das beurteilen kann – dabei von 10 Jahren, was mich etwas erstaunt hinterlies, da ich hier ja noch nicht einmal 4 Jahre wohne.
Als Argument hat er das nicht gelten lassen und mich mehr oder weniger gezwungen, mit ihm zu trinken. Mein Döner war schon in der Mache und mein neuer alter Freund fühlte sich nach irgendwas zwischen 8 und 15 Bier bemüßigt, mir von sich zu erzählen. Ich hab im Großen und Ganzen wirklich nicht den Hauch einer Ahnung, was genau er mir erzählt hat, aber zwischen dem Lallen und dem russischen Teil der Geschichte ließ sich erkennen, dass er wohl um seinen toten Vater trauert und demnächst das Land verlassen muss.
Ein knappes Bier lang hab ich also mit Mitleidsmiene und geistigem WTF im Kopf dem härtesten Proll der Umgebung beim Heulen zugesehen und war mehr als unsicher, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Nein, angenehm war das nicht. Selbst der Döner, den ich zum Mitnehmen habe einpacken lassen, war am Ende natürlich kalt. Aber geblieben ist am Ende die nicht allzu neue Erkenntnis, dass man Menschen besser nicht nach ihrem Äußeren bewerten sollte.
Keine Ahnung, ob ich ihn nochmal sehe. Aber ich ringe mit mir, ob ich ihm nicht vielleicht ein Bier ausgeben sollte. Hier, im kalten und herzlosen Marzahn, wo nur böse Ausländer und Nazis wohnen…
So kann es gehen. Und der ach so nette Herr von gegenüber ist hinter verschlossener Türe der übelste Tyrann.
Trotzdem bietet das Auftreten in der Regel wertvolle Hinweise für uns Dienstleister, findest du nicht auch?
@Der Maskierte:
Klar! Aber es ist eben umso lustiger, wenn das Aufgefundene mal nicht den Erwartungen entspricht.
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