16. September 2011 · 20:15
„Kann man um jemanden trauern, den man gar nicht persönlich kennt?“
Diese Frage wurde mir neulich gestellt – von jemandem, den ich persönlich kenne. Ich muss gestehen, dass ich diese Klippe mit fast schon hohlen Worten umschifft habe, diese Frage letztlich unbeantwortet gelassen habe. Es ist eine Frage, die Zeit benötigt. Dieser Text ist die Antwort darauf.
Ja, man kann.
Ich bin – wie inzwischen alle gemerkt haben dürften – ein ziemlich radikaler Freund des Internets. Ich verbringe einen Teil meines Lebens mit diesem Medium und ich hoffe, ich kann es auch gewissermaßen ein wenig Beleben mit all dem Content, den ich zum ewigen Datenstrom unserer Zeit beitrage. Das Netz ist herausgewachsen aus den Kindertagen, in denen das Wort „Chat“ nahezu synonym für netzbasierte Kommunikation verwendet wurde. Viele von uns interagieren über wesentlich mehr Kanäle als früher mit viel mehr Menschen als früher.
Sicher, auch ich unterscheide noch zwischen Menschen, die ich „nur aus dem Internet“ kenne und denen, mit denen ich bereits Freude oder Frust anlässlich eines gemeinsamen Treffens teilen konnte. Aber vor ein paar Tagen bin ich aufgeschreckt, als mir in einem – ihr werdet lachen – Chat von einem Bekannten mitgeteilt wurde, dass einige Leute aus der Freundesliste eines sozialen Netzwerkes fliegen würden. Ein kurzer Austausch über Für und Wider, dann fielen sie: Worte, gewissermaßen Ausdruck einer Revolution, deren Teil wir wahrscheinlich alle sind, so lange wir hier kommunizieren:
„Nein, einige von denen treffe ich sogar noch persönlich, aber ich will keinen engeren Kontakt mehr!“
Spätestens seit all den Datenschutzdebatten in den letzten Jahren ist die Frage allenfalls noch nach dem „Wie?“ der eigenen Online-Identität, nicht mehr das „Ob“. Hier gehen die Menschen wie eh und je eigene Wege und treffen Entscheidungen verschiedenster Schwierigkeit. Die einen sind radikal offen und twittern selbst ihren Stuhlgang in Echtzeit mit Foto, andere schränken sich ein bei der Wahl der Eindrücke, die sie hinterlassen wollen. Anderen ist bis heute jeder Online-Austausch jenseits einer anonymen Mailadresse suspekt und einige haben sich sogar eine eigene zweite Identität geschaffen.
Wahrgenommen vom Gegenüber wird immer das virtuelle Ich, ob wahrheitsgemäß oder fiktiv. Neu ist abgesehen vom vielseitigen Medium Internet nicht viel. Früher war nur die Anzahl derer begrenzter, deren scheinbare Identität wir in den Medien wahrgenommen haben. Über Helmut Kohl musste noch der eigene Sohn ein Buch schreiben, um zu zeigen, dass der Einheitskanzler nicht nur der nette Onkel sondern auch ein miserabler Vater war. Inzwischen sind wir etwas weiter und glauben die dicken pickligen Jungs hinter Pseudonymen wie StYlE-FuCkErXXL sofort erkennen zu können.
Aber – und deswegen mag ich das Netz so – es finden sich allerorten auch Perlen in den weitläufigen rauen Muschelbänken des Netzes. Wie im letzten Jahrhundert wohl ausschließlich Popstars begeistern uns heute auch im Kleinen die Menschen von nebenan. Ob mit virtuosen Videos, famos geschriebenen Blogs, begeisternden Fotos: Viele Leute hinterlassen in unseren Feedreadern einen emotionalen Eindruck, der vielleicht antrainierterweise der Faszination gegenüber großen Personen der Zeitgeschichte in nichts nachstehen muss.
Wer 500 Texte eines Menschen gelesen hat, muss irgendwann glauben, denjenigen wirklich zu kennen. Keiner unserer Brieffreunde hat jemals so viel von uns gelesen wie wir heute im Blog eines Unbekannten. Ja, dieser Eindruck kann täuschen. Gewaltig sogar. Aber das war immer so. Stars konnten ungeschminkt unerkannt einkaufen gehen, mit ein paar Goethezitaten hat noch jeder Zehntklässler einen lyrisch anmutenden Liebesbrief schreiben können und vielleicht hat der Blogger, der diesen Text gerade schreibt, ja tatsächlich mehr Pickel als ihr denkt…
Vor kurzem hat ein Blogger sein Blog gelöscht und einen Abschiedsbeitrag gepostet, der ziemlich unmissverständlich behauptet, dass der Autor Suizid begangen hat, bevor der Artikel veröffentlicht wurde. Anonym.
Mir selbst fehlt die persönliche Bindung dabei, aber wie schwer im Moment eines (wahrscheinlichen) Todesfalls die Tatsache wiegt, sich ausgetauscht (oder gerade eben nicht ausgetauscht) zu haben, das Gefühl, den Anderen zu kennen, ja verstanden zu haben, ist in meinen Augen nur zu logisch. Es würde mir in vielen Fällen viel mehr nahe gehen und selbst in diesem Fall hat es dazu geführt, dass ich Google ziemlich manisch ausgequetscht habe, bis ich wenigstens die Orte der letzten Fotos rekonstruiert und eine – wahrscheinlich unhaltbare aber für mich plausible – Identität zu dieser virtuellen Geschichte gefunden hatte. Teilnahmslosigkeit sieht anders aus.
Wie viele Menschen haben hierzulande vor ein paar Wochen Tränen vergossen, als Loriot starb?
Ich nehme an, wir müssen uns darauf einstellen, dass uns das in Zukunft öfter passiert und auch bei Leuten, die nicht in den Abendnachrichten erwähnt werden. Denn wir stehen nun da als Leser und selbst Blogger und vermissen einen Bekannten (in jedem sozialen Netzwerk auch noch als Freund tituliert) und merken erst in so einem drastischen und endgültigen Fall, dass wir das Übliche nicht tun können. Jemanden informieren? Wen denn? Zu einer Beerdigung gehen? Wo denn?
Und damit wird man im schlimmsten aller anzunehmenden Fälle – dem Tod – nicht nur gezwungen, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass man vielleicht gar keine Berechtigung hat, Anteil zu nehmen. Es wirkt plötzlich, als würde man eine Todesanzeige in der Zeitung nehmen und hinterherschnüffeln, keine sehr pietätvolle Vorstellung.
Und nicht zuletzt bleiben Zweifel. Starb da tatsächlich ein Bekannter – oder war es „nur“ der Tod eines lyrischen Ichs, einer virtuellen Identität? Und was würde uns eigentlich mehr betroffen machen? Der Tod eines Unbekannten oder der einer Fiktion, die uns ans Herz gewachsen ist?
Klar scheint mir eines zu sein: Wir sollten auch mit unseren virtuellen Ichs, unseren Netzidentitäten, vorsichtig und umsichtig sein. Denn der Abschied via Blogeintrag ist heute längst kein stiller mehr. Es ist löblich, aus dem Leben zu scheiden ohne andere Verkehrsteilnehmer, Passanten oder den fast schon sprichwörtlichen Lokführer miteinzubeziehen. Doch auch Leser sind Teilnehmer an unserem Leben – zumindest am Leben einer unserer Identitäten.
Und wie alle Menschen suchen sie vielleicht nach einer Möglichkeit, ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen – so unbekannt sie einem selbst auch sein mögen…