Ich weiß nicht mehr, wie alt ich genau war, aber es war weiß. Überall! Wenn man meinen Eltern glauben kann, gab es im Jahr meiner Geburt in Stuttgart irgendwas zwischen 20 und 120 cm Schnee auf den Straßen, danach habe ich so etwas nie wieder dort erlebt. Meist war man ja froh, wenn die vielleicht 8 bis 10 cm im Winter nicht binnen einer Stunde grau waren.
Hier war es anders. Ein großes und trotzdem unglaublich friedliches Haus lag mitten im tiefsten Allgäuer Winter. Vielleicht stand es in einem Dorf, aber wenn, dann war dieses zugeschneit. Das grenzenlose Weiß über alle Wege und Wiesen, Bäume und Sträucher war intensiv, brannte in der Mittagssonne geradezu in den Augen. Meine Mutter, mein Bruder und ich waren eingeladen worden von zwei alten Veteranen der oststuttgarter Kneipenszene. Ein kauziger Amerikaner namens Rob und seine geschätzt anderthalb Jahrhunderte jüngere Gemahlin Elvira boten uns an, den Jahreswechsel draußen auf dem beschaulichen Land zu genießen. Ein kleines bisschen langweilig war es da zwar schon – nach drei Stunden vermisst man dann trotz all dem Schnee doch sein ganzes Spielzeug – aber eine nette Abwechslung war es natürlich.
Der gemütliche Fernsehabend gestaltete sich schwieriger als gedacht, da natürlich keine Sau wusste, wann nun ausgerechnet Bayern 3 als letzte der Zivilisation zuzurechnende Fernsehstation, deren Signale auch dort empfangen werden konnten, „Dinner for one“ sendet. Nachdem dieser Punkt aber irgendwann abgehakt war, ging es auf null Uhr zu und das bedeutete in Deutschland nun einmal Feuerwerk. Man mag es nicht glauben, aber auch das Allgäu zählte schon damals dazu.
Mein Bruder und ich waren längst böllerbegabt, mehr noch als im Umgang mit Explosivkörpern waren wir nur darin geübt, selbige in Stuttgarter Supermärkten zu klauen, weil wir sie nicht legal erwerben durften.
Und im Allgäu? Pustekuchen! Familienurlaub mit Mama. Die war schon pingelig mit den dreieinhalb Raketen, die sie gekauft hatte, spätestens aber seit den Bedenken von Rob und Elvira blieb für uns nur das peinliche Kinder-Feuerwerk übrig. Heuler, Feuerkreisel, Tischvulkane und diese komischen Bienen, die sich mit einem bunten Lichtschwall sagenhafte 5 bis 6 Meter in die Luft erhoben – Höhen, in denen Raketen noch gar nicht daran dachten, bunt zu werden. Aber hey: Zisch, heul, blitz! Es war das Allgäu, da tickten die Uhren wohl anders. Abgesehen davon hatten wir damit im Umkreis von rund 5 Kilometern immer noch das imposanteste Feuerwerk. Die restlichen Bewohner der Umgebung, größtenteils Kühe, beteiligten sich nämlich nur wenig.
Bis zum entscheidenden Moment jedenfalls zischte, schwirrte, heulte und leuchtete es vor dem Haus doch recht angemessen und selbst unsere paar Kinderquatsch-Utensilien vermochten durch ihr Feuer und den Rauch den famosen Sternenhimmel verschwinden zu lassen.
Und während ich mich im bunten Treiben so umsah, blieb mein Blick an meiner Mutter hängen, die eine der besagten Bienen sachte niederlegte und anzündete. Ich stand sichere 10 Meter entfernt und wartete auf die imposante Leuchterscheinung (also nach wie vor für Allgäuer Verhältnisse, ist klar, ne?).
Mit einem deutlich vernehmbaren Zischen startete das kleine Teilchen – nur um anschließend, keine 50 Zentimeter über der geschlossenen Schneedecke die Richtung zu wechseln und auf mich zuzuschießen. Dank der unberechenbaren Flugbahn der wilden Biene war mein Ausweichen nutzlos, sie traf mich an der linken Hüfte. Zielsicher schräg von unten unter die Jacke. Diese verhinderte, dass der Feuerwerkskörper einfach abprallte und so surrte, zischte, rauchte und leuchtete es direkt unter meiner Jacke weiter.
Die fröhlichen Festtagsgesichter wichen heller Panik, um mein eigenes, zunächst verwirrtes, war es kein bisschen besser bestellt. Im Bestreben, die Freude möglichst maximal zu halten und sich höher in die Lüfte zu schrauben, bohrte sich die kleine Biene sekundenlang durch meine Kleidung. Die Jogginghose schmolz recht schnell, die darunterliegende Unterhose riss vermutlich direkt danach kokelnd durch. Die Biene, immer noch auf Erfolgskurs, verschmolz nun meine Haut, das darunterliegende Fleisch und die Jogginghose schmerzhaft, bis sie nach rund drei bis sieben Sekunden den Brennstoff verlor und müde glimmend zu Boden fiel, wo sie umgehend im Schnee erlosch.
Anstatt mich über eine Abnahme meines Hüftumfangs um etwa 0,5 cm binnen weniger Sekunden zu freuen, schmiss ich mich ebenfalls heulend in den Schnee.
Was ich damit sagen will?
Bienen sind unter der Jacke gefährlich und Feuer ist auch heiß, wenn es bunt ist!
Passt auf an Silvester!