Als ich ins Gebäude trete, die Pförtner ignorierend, tritt mir augenblicklich ein Polizist in Zivil entgegen. Meine Statur scheint ihn zu beeindrucken, er geht instinktiv in eine Verteidigungshaltung und fragt, die Hände ausstreckend mit hellwachem Blick, laut und deutlich:
„Moment, Moment, Moment! Wo wollen Sie denn hin?“
Irgendwie hatte das ja kommen müssen, so klischeereich wie das Ganze bisher schon war: Ich, mitten in einer schlechten Tatort-Szene. Einen guten Fernsehkommissar hätte der Kerl schon abgegeben. Und meine Rolle? Die ist eigentlich nicht der Rede wert.
Genau genommen war ich noch vor vier Minuten im Gebäude der Polizeidienststelle gewesen und nur vor die Tür gegangen, weil im Warteraum Rauchverbot und auf dem Raucherbalkon Zivilistenverbot herrschte. Ich war aus freien Stücken hier, eigentlich nur als moralische Unterstützung, wie man gerne sagt.
Nennt unsere Reflexe seltsam, aber es gibt keinen Grund, sich alleine und wehrlos irgendwelchen Ämtern auszusetzen, wenn man sich zu zweit besser fühlt. Und deswegen war ich da. Eigentlich war nur Ozie vorgeladen. Oder eingeladen, wenn man mal nicht diese irreführende Terminologie der Polizeischreiben verwendet. Wir waren freiwillig da, wenn auch auf Bitte der Polizei.
Der Grund dafür liegt rund einen Monat zurück. Die Nachbarn. Mal wieder.
Wir haben ja viele Nachbarn. Laute, leise, dicke, dünne, junge, alte, nette und die Idioten, wegen denen Ozie die Polizei geholt hat. Schon das zweite Mal. Aus dem Leben unserer Nachbarn halten wir uns bis auf einige freundliche Gesten wie die Annahme von Paketen oder das Grüßen auf dem Flur raus – die beiden Telefonate mit dem Notruf waren dem Umstand geschuldet, nicht sicher zu sein, eventuell ein Gewaltverbrechen zu ignorieren. Auch bei dauerlauter Nachbarschaft gibt es unterschiedliche Nuancen und letztlich Grenzen.
In dem Fall wohl berechtigt gesetzte, denn an jenem Abend wurde einer unserer Nachbarn letztlich von der Polizei mit Pfefferspray außer Gefecht gesetzt und das behördliche Schreiben, das Ozie bat als Zeugin zu erscheinen, betraf zwei Verfahren wegen Körperverletzung. Nicht gegenüber der Polizei im Übrigen, sondern gegenseitig.
Unser Erscheinen war wie gesagt dennoch wohlüberlegt. Viel zu berichten gab es zwar nicht, aber nach jahrelangem Mithören lag dann der Entschluss nahe, auch mal zu bestätigen, dass die offensichtlich wirklich einen an der Klatsche haben. Natürlich sollten sie ihre Familienangelegenheiten unter sich klären, aber man wird offener gegenüber Anschwärzungen, wenn nachts heulende Kinder durchs Treppenhaus laufen und bei den beteiligten Erwachsenen mehr Rück- als Fortschritte zu erkennen sind.
Und dann saßen wir da. Abschnitt 62, ein aus dem Ruder gelaufenes Klischee einer Polizeidirektion. Direkt hinter dem Eingang ein Wartebereich, locker 300 m² groß, dennoch nur mit vier schmucklosen Tischen auf vielleicht fünf mal fünf Metern in der Raummitte. Diese Halle, von der sich verzweigend einige Treppen und Türen abgingen, dominierte ein einzelnes Relief an der Stirnseite gegenüber der Türe, ungefähr fünfzehn mal drei Meter messend. Sichtbar noch sozialistischer Herkunft dominierten grob geschnitzte Arbeiterfiguren die schwer einzuordnende Szenerie.
Durch einen angrenzenden Flur stromerte ein Mann im Bademantel, der sonstige Durchgangsverkehr war überwiegend uniformiert.
Ozie wurde recht bald von einem der Beamten gebeten, mitzukommen. Meine Anwesenheit war sichtlich unerwartet, ich wartete auch gerne weiter im Wartebereich, aber es war mit Ozie ausgemacht, dass ich – für alle Fälle – erreichbar bin. Denn bei allen kontroversen Ansichten zur Polizei bleibt eines immer noch Tatsache: Selbst in solchen Situationen, in denen man sich eigentlich auf ihrer Seite bei der Aufklärung eines Sachverhaltes befindet, erwecken sie nie den Anschein, man wäre nicht dazu gezwungen. Und auf derartige Spielchen möchte man reagieren können.
Natürlich war es am Ende nicht schlimm. Ozie wurde in ein Büro gebeten, das bei gerade einmal 9 m² Fläche zwei ausgewachsene Polizisten samt Arbeitsschreibtischen, zwei Kühlschränke und Aktenregale beherbergte. Eine Mikrowelle der ersten Generation und eine langsam sterbende Yucca-Palme ebenso. Die Wände zierten lustige Comics, Fotos von Polizisten, Sportvereinswimpel und die ein oder andere romantische Fotografie ferner Länder. Die Blaupause für das, was die Inneneinrichtungsverbrecher der Tatort-Crew dem deutschen Fernsehzuschauer jeden Sonntag vorsetzen.
Während ich in der Halle unten den Gesprächsfetzen der anwesenden Beamten lauschte und mich (auch via Twitter) über die karge Deko in Form einer Kehrmaschine im Eck amüsierte, beantwortete Ozie im zweiten Stock geduldig ein paar Fragen. Unter der Treppe zum zweiten Stock schlummert eine monströse, offensichtlich in privater Heimarbeit angefertigte und schon alte Rollstuhlrampe aus Massivholz. Sicher für den Haupteingang 30 Meter entfernt. Ich male mir in Gedanken aus, wie vier Beamte mit vereinten Kräften das Ding zur Türe wuchten, während ein normaler Rollstuhl nur den Handgriff eines Helfers erfordern würde. In die Ruhe höre ich hinter dem deplazierten Raumteiler, der uns Besucher von den meisten Polizisten abschirmt:
„Also die Moral bei Rotlicht, dit is‘ erschreckend!“
Inzwischen haben auch die zwei UPS-Fahrer am Nachbartisch Gesellschaft einer Beamtin erhalten. Ungeachtet meiner Wenigkeit und der Anwesenheit einer anderen Dame wird mal kurz ein Unfall im Wartebereich aufgenommen. Ich wundere mich, bin jedoch auch amüsiert, wie die Anwesenden die Prenzlauer und die Hellersdorfer Promenade durcheinanderbringen. Humor für Ortskundige.
Die Befragung von Ozie hat längst ein Ende genommen, einer der zwei Bediensteten in dem großzügig geschnittenen Büro hat sogar bereits Feierabend gemacht. Den Rest der Zeit soll das Ausdrucken des Protokolls in Anspruch nehmen, da beide verfügbaren Drucker nicht ganz frei von Makeln sind. Die folgenden 15 Minuten, die das Spektakel am Ende dauerte und durch Ozies Unterschrift in zweifacher Ausfertigung besiegelt wurde, nutzte ich unten in der Halle, um mir eine Cola am Automaten zu ziehen und die eingangs erwähnte Raucherpause anzutreten. „Nicht lange“ sollte es dauern, der Minutenzeiger hatte am Ende eine Dreiviertelrunde hinter sich.
Als Ozie und ich, beide noch etwas amüsiert ob unserer Einblicke in diese Welt, wieder zusammentrafen, beschlossen wir, dem Tag (auch wegen weiterer anstehender Aufgaben) und dem unweigerlich folgenden Gespräch eine nette Atmosphäre zu geben. Ich erinnerte mich an den netten Italiener ums Eck der Polizeidirektion, zu dem mich damals Jochen Knobloch vom Tagesspiegel eingeladen hatte. Und dort ließen wir den Nachmittag dann angemessen ausklingen. Denn wie twitterte ich bereits aus dem Wartebereich des Abschnitts 62?
„Pizzadienststelle würde mir mehr liegen.“