Früher haben wir das auch geschafft …

Der Familienbesuch ist vorbei und im Grunde war er schön. Das Spätzle hat mal wieder seinen einzigen Opa sehen können, wir hatten Spaß, waren im Tierpark und haben viel gespielt usw.

Leider ist da halt auch immer wieder diese Generationenfrage in so ungefähr allen Punkten. Mir liegt nichts daran, meine Eltern schlecht dastehen zu lassen, aber den berühmt-berüchtigten Klaps auf den Po beispielsweise gab es bei uns auch noch. Nichts darüber hinaus, das möchte ich ehrlich anmerken, ich weiß von vielen Altersgenossen, dass es sie schlimmer erwischt hat.

Aber Körperstrafen (aka Gewalt) sind ja nicht das Einzige. Immer wieder tauchte auch dieses Mal dieser eklige Satz auf:

„Früher haben wir ja … und wir haben es ja auch geschafft.“

Ich hab nix gegen Tipps von erfahrenen Leuten, ich denke, man sollte auch aus der Vergangenheit lernen und ich bin allgemein ein recht aufgeschlossener Mensch. Aber meine Fresse, was widert mich dieser Satz an!

Das Spätzle: Nicht 1960 geboren. Quelle: Sash

In erster Linie liegt es natürlich daran, dass er immer nur dann gebracht wird, wenn es um negative Dinge geht. Niemand sagt: „Früher wurden wir auch immer für Kleinigkeiten gelobt und aus uns ist auch was geworden.“

Wirklich fatal ist aber, dass das darüber hinaus natürlich die Manifestation eines bekannten Fehlschlusses ist, nämlich des „Survivership Bias“: Menschen, die eine negative Erfahrung gemacht und diese überstanden haben, glauben, dass diese negative Erfahrung deswegen ungefährlich war. Prominente Beispiele sind die Kinder, die von sadistischen Eltern grün und blau geprügelt wurden und trotzdem nicht selbst gewalttätig wurden oder z.B. Krebskranke, die sich zwei Monate von Multivitaminsaft ernährt haben und jetzt wieder gesund sind.

Das mag richtig sein und unter Umständen sogar kausal bedingt (was sehr unwahrscheinlich ist!), aber es bedeutet eben nicht, dass deswegen das Schlagen von Kindern oder Krebs harmlos ist. Das ist wie eingangs erwähnt ein Fehlschluss. Die paar Leute, die es aus einem brennenden Flugzeug geschafft haben sind keinGrund dafür, dass man künftig alle Flugzeuge vor dem Start anzünden sollte!

Aber trotzdem:

„Also ich hab ja nie einen Kindergarten besucht und es hat mir nicht geschadet!“

„Ich musste damals ja auch im Winter drei Kilometer zur Schule laufen und das war auch ok!“

„Wie haben uns ständig geprügelt und das hat uns ja auch irgendwie weitergebracht!“

Mal im Ernst: Bei uns sind nicht alle diese Aussagen getroffen worden, aber ich war trotzdem schwer in Versuchung, anzumerken, dass eure Eltern ja auch den zweiten Weltkrieg überlebt haben und man ja deswegen vielleicht auch mal gleich einen dritten anzetteln sollte.

Hey, ich konnte mal mit 15 zuhause nicht in die Wohnung, weil meine Mutter Alkoholikerin war und im Flur liegend die Tür versperrt hat, was schlussfolgern wir denn bitte daraus in Anbetracht der Tatsache, dass ich heute ein ganz okayer Typ bin?

Wie gesagt: Es ist richtig, aus der Geschichte zu lernen. Aber gerade wenn es um Sachen wie Psychologie oder Kindererziehung geht, dann sind wir vielleicht in den letzten 30 Jahren auch ein entscheidendes Stück weiter gekommen.

Und zwar so entscheidend, dass „Wir haben früher ja auch …“ vielleicht nicht mehr so wirklich ein tragbares Argument ist.

5 Comments

Filed under Familie

5 Responses to Früher haben wir das auch geschafft …

  1. susann

    .
    das thema hatte ich gerade eben mit dem geliebten kindspapa..,

  2. Lifthrael

    Mein Vater ist Alkoholiker und hat meine Mutter so schlimm verprügelt, dass sie fast mit mir ins Frauenhaus geflohen ist als ich zwei Jahre alt war und mein Bruder zu seinem Schutz bei einem Schulfreund eingezogen ist. Mit zehn.
    Und es hat mir auch nicht geschadet! Ich bin zwar ein psychisches Wrack, mit Depression, PTBS, Panikattacken, Angst vor Konflikten und ohne jedes Selbstwertgefühl… Aber Hauptsache, es hat mir nicht geschadet!

  3. @susann:
    Klingt irgendwie nicht so gut …

    @Lifthrael:
    Psychische Krankheiten gab es damals ja auch nicht …
    Ich meine, das geht jetzt natürlich über die tatsächlichen Gespräche hinaus, die Anlass für den Eintrag waren, aber ich finde es beachtlich wie blind manche da rangehen. Also wie oft man eigentlich ein „Naja“ anbringen müsste bei Leuten, die sich attestieren, keinen Schaden genommen zu haben an diesem oder jenem …

  4. Wahlberliner

    Wow…ich hatte gerade eine „revelation“ durch diesen Artikel. Nicht durch den Text, dem ich inhaltlich natürlich zustimme. Und ich danke Dir dafür, dass Du Dir um die Persönlichkeitsrechte Deines Nachwuchses (bzgl. Gesichtsbilder, biometrischer Identifizierung) wenig Sorgen machst, denn sonst hätte es in diesem Beitrag nicht das Bild eines friedlich daliegenden Säuglings mit Schnuller im Mund gegeben. Da erinnere ich mich daran, dass ich als Baby praktisch so gut wie nie einen Schnuller bekommen habe – oder, zumindest nur relativ kurz. Meine Mutter hat wohl gedacht, das sorgt für irgend eine Abhängigkeit, das Kind wird später zum Daumenlutscher oder ähnliches, was weiß ich. Jedenfalls kann ich jetzt eine Verknüpfung dahin ziehen, dass ich heute die psychisch-emotionalen Folgen frühkindlicher Deprivationserfahrungen erlebe, was meine Fähigkeit, gesunde zwischenmenschliche Beziehungen zu führen, stark einschränkt. Wow! Das ist eine gewichtige Erkenntnis. Ich glaube, ich kaufe mir zum Spaß mal einen Schnuller, und probiere, wie es sich anfühlt, so einen Gummipfropfen im Mund zu haben. Vielleicht kann ich ja was aufholen? 😉

    Jedenfalls danke, ich reflektiere weiter. Und natürlich sollte man immer versuchen, alles so gut/richtig wie möglich zu machen. Nette Beispiele aber, mit dem Flugzeug vorm Start anzünden (ich erinnere mich daran, dass vor allem ältere chinesische Frauen aus irgendeinem kulturellen Aberglauben heraus vor Flügen gerne Geldmünzen in die Flugzeugturbinen werfen, was auch keine allzu gute Idee ist, aber sie denken halt, es brächte Glück für den Flug…)

  5. @Wahlberliner:
    1. Ich poste gerne immer noch Bilder von ihm, obwohl ich mir darum Gedanken mache. Ich sehe die persönlichen Gefahren, ich sehe aber auch die Gefahren, die sich daraus ergeben, dass das Internet ohne Kinder stattfindet. Natürlich wird sich das irgendwann hin zu „nicht mehr posten“ und noch später zu „nur auf eigenen Wunsch posten“ entwickeln, aber Bilder sind nur ein Datum von vielen. Und die meisten, nämlich z.B. staatlich erfasste, selbst veröffentlichte oder gar genetische sind nichts, worauf ich einen Einfluss habe.

    2. Schnuller sollen nur so mittel gut sein, er verwendet inzwischen glücklicherweise schon freiwillig keine mehr. Das erspart uns weiteres Nachdenken darüber enorm. 🙂

    3. Auch ein gutes Beispiel. 😀
    Aber im Ernst: Ich finde es eine sehr clevere Nutzung des eigenen Intellekts, über seine Vergangenheit nachzudenken und zu überlegen, was das für die Zukunft bedeutet. Nicht rückwärtsgewandt im engeren Sinne, sondern ergebnisoffen. Und ja, man muss nicht jede Trivialität zerdenken, aber wenn es um große Dinge wie die Frage, ob einem Gewalt wiederfahren ist und was das bedeutet, geht, finde ich das sehr sinnvoll. Zumindest gibt uns die Wissenschaft gute Gründe dafür an die Hand.

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