3. Juni 2013 · 05:13
Ich habe die Befürchtung, mein 16-jähriges Ich würde mich hassen.
Nicht unbedingt vollständig. Ich denke sicher, der 16-jährige Sash würde sich erstaunt fragen, wo ich bitteschön eine Frau fürs Leben herbekommen habe – und anerkennend nicken, wenn ich ihm die Geschichte mit der WG, der Party und dem vielen Alkohol erzählen würde, die nun einmal die Grundlage für die nunmehr über 7 Jahre andauernde Geschichte war.
Beim Thema Ehe wiederum …
Aber darum geht es mir gar nicht. Es geht tatsächlich um die Kunst.
„Ich hoffe, dass ich niemals zu den langweiligen Erwachsenen gehören werde, die nur noch ihre alte Musik hören, oder noch schlimmer: Die ganze Scheiße, die im Radio läuft!“
(meine Worte, ca. 1997)
Ganz so schlimm ist es natürlich nicht gekommen. Zwar höre ich tatsächlich nicht mehr so intensiv und bewusst Musik wie früher, das Radioprogramm jagt mir aber immer noch einen Schauer über den Rücken. Und bei aller Vorliebe für altes gruseln mich die ganzen Ü30-Parties, bei denen Steinzeit-Dancefloristen auftreten, die ich schon kurz nach der Veröffentlichung ihrer zwei einzigen Hits in die Tonne treten wollte, aus der sie herkamen. Ebenso finde ich – zwar wesentlich seltener als früher, aber eben immerhin manchmal – noch neue Musik, die ich nicht ablehne. So lange es mir gefällt oder objektiv betrachtet neu und/oder mutig ist, hat es meinen Respekt. Und nur weil ich sowas seltener finde, stimme ich keinen Abgesang auf dieses Jahrzehnt an. Die 80er waren schließlich auch gruselig und haben doch eine Reihe meiner Lieblingsinterpreten großgemacht oder zumindest mal sozialisiert.
Nein, das Schlimme mit der Musik ist – und das würde der 16-jährige Möchtegern-Punk nicht verstehen – dass sie mir nicht mehr so wichtig ist. Dass ich sie seltener bewusst höre, dass sie nicht mehr die Wahl Nummer 1 unter den Kunstrichtungen ist.
Ich hab mir diese Gedanken gemacht, als ich heute im Taxi durch Berlin gecruist bin und die Anlage auf „Ohrenputzen“ gestellt hatte. Im CD-Player die Discover my Soul von H-Blockx, meiner Meinung nach im Übrigen eine zu Unrecht verurteilte Band, auch wenn die Songs nicht gerade ein Aushängeschild der Komplexität sind.
„Wann hat sich das das letzte Mal so gut angefühlt, den Song voll aufzudrehen?“
hab ich mich bei „Life is feeling dizzy“ gefragt.
Lange nicht mehr, zugegeben.
Und ich musste mir von dem neugierigen Naseweis aus dem Jahre 1997 die Frage vorhalten lassen, weswegen ich nicht öfter mal die Stereoanlage auf Durchzug stelle.
Mit den Nachbarn brauche ich mich nicht verteidigen. Die hätten eine Abreibung verdient – auch für den ganzen Ehekrach, den ich mir ungefragt anhören muss – und nach all den Jahren in der WG weiß ich auch, dass der erste Besuch der Cops wegen Ruhestörung völlig lächerlich und kostenlos ist.
Des Rätsels Lösung ist viel einfacher: Es stört mich selbst. Musik ist eine erstklassige Geschichte, um sich – wenn möglich unter dem Einfluss diverser Drogen – zurückzulehnen und sich ganz und gar seinen Gefühlen zu überlassen. Diese Momente waren zahlreich in meinem Leben und ich habe sie nicht gänzlich abgehakt. Aber darüber hinaus hab ich so viel mehr gefunden im Lesen und Schreiben.
Ich bin nicht multitaskingfähig. Zumindest nicht grenzenlos. Einen Zeitungsartikel überfliege ich auch mal kurz bei Musik im Hintergrund. Volle Power gute Musik und gleichzeitig gute Texte lesen oder schreiben ist aber nicht drin. Und deswegen trat die Musik zurück. 1997 hatte ich nach der Ausgabe des Spiegels jede Woche und ein paar Kleinigkeiten den Kopf frei für Musik. So schön das war, so wenig betrübt mich die Tatsache, dass mich heute rund um die Uhr das Internet mit seinen zahlreichen kreativen Schreibern umwirbt und mir zudem die Möglichkeit gibt, meine eigenen Worte hundert-, ja, tausendfach unter die Leute zu bringen. Musik lenkt mich da oft ab, Musik unterfordert mich. Immer möchte ich nebenher etwas anderes machen. Lesen oder schreiben z.B., doch ich kann es nicht.
Musikern wird es umgekehrt ähnlich mit der Literatur ergehen.
Und auch wenn die Musik zunächst näher am Herzen scheint, ist es kein schlechter Tausch für mich gewesen. Immerhin setzt die Fokussierung auf das geschriebene Wort bei mir ungleich mehr kreatives Potenzial frei – etwas, das bei meiner Begabung im musikalischen Bereich nur sehr schlecht aufgehoben wäre …
Und weniger Freude an der Kunst kann ich mir nicht vorwerfen lassen. Liebenswerterweise wurde mir z.B. das Buch zur „Make good Art“-Rede von Neil Gaiman als Geschenk von meiner Wunschliste zugesandt, ein in meinen Augen wortgewaltiges Meisterwerk (hier als Video eingebettet), das mich jetzt umso mehr erfreut, wo ich es – neben dem Bett liegend – immer wieder hervorkramen und darin stöbern kann (Obwohl ich so langsam auf das Level komme, den Text auswendig zu können).
Neben so vielem anderen ebenfalls empfehlen könnte ich die zwar in die Jahre gekommenen, deswegen aber fast noch überraschenderen „Sterntagebücher“ von Stanislaw Lem, ein Buch, das die faszinierende Eigenschaft hat, umso witziger zu werden, je intelligenter und belesener man ist. Mir selbst – bislang allenfalls im Mittelfeld der Skala angeordnet – hat es mehr Spaß gemacht als das ein oder andere Konzert, das mein 16-jähriges Ich nicht missen wollen würde.
So gesehen lächele ich heute ein wenig über mein altes (junges) Ich – wie so ein drecksreaktionäres Arschloch damals.
Der Unterschied ist: Ich tue das nicht aus Gehässigkeit oder weil ich mich jetzt für einen besseren Menschen halte. Ich habe inzwischen, anderthalb Jahrzehnte später, andere Interessen. Und das ist wohl völlig normal. Ich möchte ebensowenig wieder 16 sein wie der Typ damals gerne 31 gewesen wäre. So ist das Leben.
Mein heutiges Ich hat dann aber doch einen Vorteil: Es hat sowohl auf Konzerten Stiefel in die Fresse bekommen, als auch ehrfürchtig vor schönen Worten geweint. Das betrachtend bin ich gespannt, was mein 46-jähriges Ich dereinst übers Bloggen und meine aktuellen Bücher denken wird.
Aber bevor ich mich da hineinsteigere, höre ich ein wenig Musik. Die H-Blockx-CD müsste hier irgendwo liegen …