23. April 2013 · 05:28
„Österreich? Nee, is‘ klar!“
Als ich von meinem Ex-Mitbewohner die Einladung zu seinem Geburtstag erhalten habe, dachte ich auch umgehend, er hätte wohl einen an der Klatsche. Wohl wahr, im Laufe der Jahre hat sich der Freundeskreis über verschiedene Städte, Länder, mitunter über Kontinente verteilt. Aber Österreich?
Und wäre es wenigstens Wien gewesen! Dort hätte ich zumindest endlich mal meinen guten Freund Alex besuchen können.
Aber es musste ja eine Berghütte sein. Im Zillertal, na klar! Ich bin ja sparsam mit Reisen. Das liegt in meiner Sparsamkeit bei der Arbeit begründet, die wiederum zu einer Sparsamkeit beim Geld führt. Aber auch zu einer Sparsamkeit an Urlaub – den braucht man schließlich nur, wenn man sich überarbeitet.
Da ich aber in unregelmäßigen Abständen durchaus Lust verspüre, mein Einsiedlerleben zu verlassen, hatte ich das mit der Fahrt in den hohen Süden schnell mal geplant. Bei der Bahn völlig unkompliziert ein paar günstige Tickets ergattert, mit dem Schwob ein Unterwegs-Treff-System aufgebaut, das ziemlich optimistisch war – und dann gewartet.
Es war ja nun nicht irgendwer und irgendwas. Ausgerechnet Felix, seines Zeichens Mitinhaber der „besseren Hälfte“ der WG, mit mir vor neuneinhalb Jahren zusammen in eine 34m²-Bude geworfen ohne dass wir uns kannten, feierte seinen dreißigsten. Schon schlimm, insbesondere eingedenk der Tatsache, dass ich selbst ja noch älter bin. Sicher mit dabei waren von Beginn an einige mir bekannte Leute, darunter auch ein paar, die ihren Namen hier nicht lesen wollen.
Das Wochenende gliederte sich in drei Hauptbausteine: ein Drittel Zugfahrt, ein Drittel Essenszubereitung und ein Drittel Feiern. Der Schlaf ging überwiegend von der Zugfahrt ab. Am Freitag startete ich ohne Nachtschlaf und frohen Mutes mit überfüllter Reisetasche um 5:50 Uhr mit der S-Bahn von Marzahn aus. Keine 10 Stunden später traf ich im tiefsten Bayern auf den Schwob samt besserer Hälfte. Die im Großen und Ganzen problemlose Anreise endete irgendwann am späten Nachmittag nach einem Einkauf mit der Erkenntnis, dass es zumindest mal schon Zeit für ein Radler wäre.
Die Hütte, Baujahr 1830, wies hier und da erkennbare Anzeichen der Neuzeit auf (Strom, Stereoanlage, Sauna, Dusche), das Essen jedoch wurde z.B. noch mit echtem Feuer zubereitet. Ansonsten war es nach den neuesten Erkenntnissen der Medizin eingerichtet – so waren die Betten beispielsweise länger als die Türen hoch – man weiß ja, dass der Mensch im Laufe des Tages in sich zusammensackt.
A prospos zusammensacken: Einer noch einzuführenden Norm nach waren auch unter fast jedem niedrigen Balken Betten installiert, so dass unvermeidliche Stürze nach Kopfstößen in den meisten Fällen sanft aufgefangen wurden.
Im Ernst: Was für eine geile Hütte! Locker die Hälfte der Bodenfläche war mit Schlafplätzen ausgestattet, selbst über der Küchenzeile waren Betten eingelassen. Auf sehr optimistisch geschätzten 100m² Wohnfläche fanden sich um die 25 bis 30 Schlafplätze und ebenso viele Sitzgelegenheiten. Das ganze zu einem Preis, den man anderswo für ein Hotelzimmer für zwei Personen mit Dusche auf dem Gang bezahlt. Wir jedenfalls waren zufrieden. Ich selbst habe mir im Übrigen nur einmal den Kopf gestoßen, was vermutlich am Training liegt. Schließlich ducke ich mich auch, wenn ich mein eigenes Zimmer zu Hause verlasse.
An einer angemessenen Partybeschreibung sind meines Wissens nach noch alle Autoren gescheitert, auch ich habe das erst für ein sehr spätes Werk meiner schriftstellerischen Laufbahn geplant, so gesehen unterlasse ich das hier. Es mangelte jedenfalls nicht an gutem Essen, alkoholischen Getränken, Kampfkuscheln, ernsten und nicht ganz so ernsten Diskussionen, lauter Musik und verschiedenen Tanzstilen. Da die Protaginisten unseres gruppendynamischen Stelldicheins überwiegend jenseits der mittleren Zwanziger war, konnten sogar alle Anwesenden sang- und klanglos akzeptieren und mitfeiern, wenn mal die Musikrichtung wechselte. Und so ein Electropunkhiphopraggapop-Wochenende hat durchaus seinen ganz eigenen Charme.
Sicher, die Hütte hielt nur, weil in den ersten 140 Jahren seit Einbau der Deckenbalken das Pogotanzen noch nicht erfunden war, aber ganz durch haben auch wir sie nicht gekriegt. Mein erster Abend endete irgendwo bei 30 bis 35 Stunden nach dem Aufstehen, die Helligkeit kroch bereits langsam die nebligen Bergrücken hoch, im Mund hatte ich irgendwas zu essen, das an eine Schuhsohle erinnerte, wahrscheinlich aber auch nicht mehr zum essen gedacht war.
Trotz nicht abschließbarer Klotüren hielten nicht etwa Sittenverrohung und Exhibitionismus Einzug, auch als offenbar einziger Verheirateter in dem irren Haufen fürchte ich jedenfalls keine Skandalenthüllungen in den nächsten Tagen, wenn so langsam die Fotos online sein werden. Im Gegenteil: Der Samstag begann mit dem jeweiligen Anti-Kater-Ritual aller Beteiligten, egal ob es sich dabei um Bergwanderungen, Kopfschmerztabletten, Konterbiertrinken oder kalt duschen handelte. Zu guter Letzt wuselten die meisten fleißig – oder zumindest gefräßig – durch die hervorragend bestückte Küche, das Ganze gipfelte in etwas, das friedlicher war als das, was ich gemeinhin als Familienfrühstück kenne.
Während die nicht völlig zerstörte Fraktion den Samstag weitgehend mit der bergauf führenden Suche nach der Schneegrenze verbrachte, stand an der Hütte alles im Zeichen der Pizza. Der besonders engagierte und kreative Teil unserer Gruppe startete mehr oder minder spontan den Bau eines Steinofens, was nicht nur im handwerklichen Bereich Folgen hatte. Schließlich hatten wir auch noch grob geschätzte zwei bis drei Kilo Grillfleisch, eine runde Tonne Salat und einiges an Beiwerk zu verzehren. Dennoch wurde der Bau und Betrieb des Ofens – der clevererweise direkt unter dem Abfluss der Regenrinne platziert wurde – in den Einkaufsplan mit einbezogen.
Mit Mitteln zweiter Wahl („Das ist kein Qualitäts-Schlamm hier!“) wurde umherliegendes Material (Grenzsteine von einer nahegelegenen Straße z.B.) verarbeitet und keine sechs Stunden nach Baubeginn wurde die erste Pizza gemeinsam mit dem ersten Radler des Tages verspeist.
Wirkte die Runde in Anbetracht der kulinarischen Herausforderungen noch etwas müde, wendete sich das Blatt im Laufe der späten Abendstunden spürbar. Zwar lag ausgerechnet das Geburtstagskind in diesen Stunden eine Weile flach („Ich hab noch nie so oft hintereinander gekotzt!“), aber nach der an eine Totenmesse erinnernden Geschenkübergabe am Bett wurde fleißig weiter Pegelsport betrieben, was nicht zuletzt unserem argentinischen Barkeeper zu verdanken war, der auch gerne mal Hand an den Lichtschalter legte, um als Low-Budget-Strobo das letzte aus der Location rauszuholen. Die Balken bogen sich im wahrsten Sinne des Wortes, ein Ende war kaum abzusehen und der Übergang in den Abreisemorgen war fließend.
Zwischendurch tauchte noch der Vermieter der Hütte auf, ein Mann in den frühen Fünfzigern, der zunächst nicht so recht begeistert ob der Tatsache erschien, dass vor seiner Hütte nun ein Pizzaofen stand. In Anbetracht dessen, dass wir im Grunde aber den Feuerschutz mehr als nur ausreichend beachteten, drückte er demonstrativ zwei Augen zu und gestand, dass das in einer „etwas professionelleren Form“ durchaus eine Aufwertung der Hütte wäre. Aus der kurzen Einholung von Unterschriften wurde dann ein halbstündiges angenehmes Gespräch („Oha, eine sehr nette Gruppe!“), das uns letztmalig bestätigte, dass wir dort genau richtig waren.
Der Aufbruch am Morgen war wie immer bei solchen Parties zu hektisch, zu nervig, in Anbetracht des Erlebten zu traurig, ganz ehrlich. Aber manche Dinge lassen sich nicht vermeiden oder aufschieben – und so war um 13 Uhr Schluss mit Lustig. Die Autos wurden beladen, der Müll eingesammelt, größer kann eine Ernüchterung nicht sein.
Der Schwob, seine Begleitung und ich mussten uns noch ein paar Stunden bis zur Zugabfahrt in Jenbach die Zeit vertreiben – was uns in einer netten Pizzeria mit angeschlossener Konditorei bei einem opulentem Mahl inklusive selbstgemachtem Eis recht leicht fiel. Dass ich an diesem Wochenende dennoch rund zwei Kilogramm Gewicht verloren hab, lässt mich über mein restliches Leben nachdenkend zurück.
Meine Heimfahrt war – dem Gelbeutel geschuldet – ein bisschen langwierig. Direktverbindung konnte man das kaum nennen, auch wenn es mit dreimaligem Umsteigen eigentlich einer der besten Wege hätte sein müssen. Selbst von Jenbach aus waren es noch zwölf Stunden, davon nur anderthalb zum Umsteigen. Wenngleich ich trotz des heftigen Samstags keinen Kater vermelden konnte, mag der ein oder andere mich bemitleiden ob des Zustands, den ich hatte, als ich am Montagmorgen um 7.45 Uhr die Tür hinter mir wieder schloss und die Welt erst einmal Welt sein ließ. Aber wenn es ein Fazit gäbe, dann würde es lauten:
Es hat gerockt! Jederzeit wieder!